Freimessen, ein seltsames Wort

Freimessen – auf diesen Begriff stößt man immer wieder, wenn es um Abfälle aus Kernkraftwerken geht. Was bedeutet Freimessen?

In einem Kernkraftwerk und insbesondere bei seinem Abbau fallen große Materialmengen an, deren künstliche Radioaktivität so gering ist, dass diese außer Acht gelassen werden kann. Der allergrößte Teil der Materialien ist nicht dem radioaktiven Abfall zuzuordnen, sondern es handelt sich entweder um verwertbare Reststoffe oder um deponiepflichtige Abfälle. Diese müssen auf den für die jeweiligen Abfälle festgelegten Weg gebracht werden, also entweder verwertet oder deponiert werden. Dafür muss nachgewiesen werden, dass diese Abfälle den gesetzlichen Vorgaben entsprechen, bevor sie aus der atomrechtlichen Überwachung entlassen werden dürfen. Das Freimessen ist dabei eine Voraussetzung für die Freigabe durch die zuständige Aufsichtsbehörde für eine Verwertung oder die Deponierung.

Uneingeschränkte und spezifische Freigabe von Abfällen

In der Umwelt und auch in einem Kernkraftwerk kommen viele verschiedene Radionuklide vor. Jedes Radionuklid hat individuelle Strahlungseigenschaften, deshalb gibt es auch für jedes Radionuklid einen eigenen Freigabewert, geregelt ist das in der Strahlenschutzverordnung. Ist die Aktivität so gering, dass das Material wieder ohne jede Einschränkung in den Wirtschaftskreislauf zurückgeführt werden kann, spricht man von der uneingeschränkten Freigabe. Bei etwas höheren Aktivitäten erfolgt eine spezifische Freigabe, d.h. die weitere Verwendung wird vorgegeben (z.B. Deponierung oder Verbrennung von Stoffen, das Einschmelzen von Metallen).

Gesetzliche Vorgaben

In der Strahlenschutzverordnung ist festgelegt, dass durch diese Abfälle weder für Deponiemitarbeiter noch für andere Personen ein Dosisgrenzwert im Bereich von 10 Mikrosievert (0,01 Millisievert) pro Jahr überschritten werden darf. Diese Strahlendosis ist weniger als ein Hundertstel der natürlichen Strahlenbelastung durch kosmische Strahlung und natürlich vorkommende Radioaktivität, die in Deutschland bei durchschnittlich 2100 Mikrosievert liegt. Der Nachweis über die noch verbliebene Radioaktivität wird in einem längeren Prozess, dem sog. Freigabeverfahren, erbracht.

Ablauf des Freigabeverfahrens

 

Der Ablauf der Freigabe ist behördlich geregelt. Jedes Bauteil im Kontrollbereich eines Kernkraftwerks verbleibt zunächst dort nach seinem fachgerechten Ausbau. Durch die radiologische Charakterisierung ist bereits im Vorfeld des Ausbaus der radiologische Zustand des Bauteils gut bekannt und der weitere Bearbeitungsweg vorgezeichnet. Im Kontrollbereich erfolgt ggf. die Nachzerlegung des Bauteils und eine sorgfältige schriftliche Dokumentation zu jedem Einzelteil zur Vorbereitung des erforderlichen Freigabeantrags. Im Anschluss wird jedes Bauteil von ggf. oberflächlich anhaftenden radioaktiven Partikeln befreit, die sog. Dekontamination. Dann erfolgt die Orientierungsmessung, die zeigt, ob die Bearbeitungsmaßnahmen wirksam waren und das Bauteil den Kontrollbereich verlassen darf. Zeigen sich bei dieser Messung noch radioaktive Anhaftungen, geht das Material zurück zur weiteren Dekontamination. Erst wenn die Orientierungsmessung das erforderliche Ergebnis zeigt, wird die entscheidende Freigabemessung durchgeführt.

Sie erfolgt außerhalb des Kontrollbereichs in speziellen Metallkörben in einer qualifizierten Messkammer, der Freimessanlage. Die Messung erfolgt außerhalb des Kontrollbereichs, damit auch geringste Mengen verbliebener Aktivität erkannt werden und nicht durch die „Hintergrundstrahlung“ messtechnisch verdeckt werden. Dies kann man sich wie bei einem Blick in den Sternenhimmel vorstellen. Man erkennt in einer klaren Nacht viel mehr – auch schwache – Sterne, wenn man in einer ländlichen Region oder auf See ist, als wenn man sich z. B. in einer Großstadt aufhält. In der Stadt überdeckt das Streulicht diese schwachen Sterne und diese sind dann nicht sichtbar.

Die Ergebnisse der Messungen und die Stoffeigenschaften werden fortlaufend dokumentiert. Sollte das Material die Freigabekriterien nicht erfüllen, geht es auch von hier wieder zurück zur Dekontamination und durchläuft den Prozess noch einmal. Sollte auch durch eine Nachbearbeitung ein Unterschreiten der Freigabewerte nicht sicher nachgewiesen werden können, wird das Material als radioaktiver Abfall entsorgt. Die freigemessenen Materialien werden regelmäßig in Stichproben von Sachverständigen im Auftrag der Aufsichtsbehörde geprüft. Dass das freizugebende Material die für die Freigabe geltenden Kriterien erfüllt, wird durch folgende Maßnahmen sichergestellt:

  • von Sachverständigen geprüfte und behördlich zugestimmte Schrittfolgepläne für alle relevanten Schritte im Verfahren (radiologische Charakterisierung, Reststoffbearbeitung, Freigabe und Dokumentation)
  • Einsatz von qualifiziertem Personal mit behördlich anerkannter Fachkunde
  • enge atomrechtliche Begleitung aller Schritte durch hinzugezogene Sachverständige.

Erst am Ende dieses aufwändigen Verfahrens erteilt die atomrechtliche Aufsichtsbehörde entweder die uneingeschränkte oder spezifische Freigabe. Ein großer Teil der Abfälle kann, wie im Kreislaufwirtschaftsgesetz vorgesehen, wiederverwertet werden. Beispielsweise wird Bauschutt im Straßenbau eingesetzt und Metalle fließen wieder in die Produktion. Ein anderer Teil muss deponiert werden. Hierzu gehören beispielsweise Isoliermaterialien.

Einhalten des Grenzwertes wird sichergestellt

Eine Freigabe ist nur dann zulässig, wenn die Strahlendosis auch unter ungünstigsten Annahmen nicht über dem Bereich von 10 Mikrosievert pro Jahr liegt. Um von diesem jährlichen Dosiswert auf die maximal zulässige Aktivität in den freizugebenden Stoffen zurückzurechnen, beginnt man mit den Verhältnissen auf der Deponie, z. B. wer ist in welchem Abstand und wie lange mit dem freigegebenen Material in Kontakt. Mit dieser Information kann die maximal zulässige Aktivität der zu beseitigenden Abfälle berechnet werden. Dabei wird die am stärksten betroffene Person betrachtet. Es muss beachtet werden, dass in einem freizugebenden Abfall verschiedene Radionuklide gleichzeitig vorhanden sein können. Das können sowohl solche sein, die auch natürlich vorkommen, als auch solche, die nicht oder kaum natürlichen Ursprungs sind. Die natürlicher Weise in einem Material vorkommende Radioaktivität soll bei der Berechnung der Strahlendosis nicht berücksichtigt werden, weil bei der Freigabe nur die künstlichen Radionuklide (also solche, die aus dem Betrieb des Kernkraftwerks stammen) berücksichtigt werden müssen. In der Praxis wird aber nicht zwischen natürlich vorkommenden Radionukliden und den künstlichen Radionukliden unterschieden: Die gemessene Gesamtaktivität wird als künstliche Aktivität gewertet. Auch bei der Gesamtaktivität werden die Freigabewerte eingehalten.

Ermittlung von Radioaktivität in der Freimessanlage

Durch umfangreiche Untersuchungen des zu prüfenden Materials werden alle darin vorkommenden Radionuklide exakt bestimmt und der sog. Nuklidvektor ermittelt. Er gibt an, welche Radionuklide in welchem Umfang im Material vorkommen. Mit diesem Nuklidvektor wird die Freimessanlage eingestellt – selbstverständlich unter strenger Überwachung durch die Behörde bzw. durch die von dieser hinzugezogenen Sachverständigen. Danach wird das Material, das freigegeben werden soll, mit diesem Messgerät untersucht. Die Umgebungsstrahlung muss vollständig abgeschirmt werden, damit die zum Teil sehr geringe Strahlung des Freigabematerials überhaupt erfasst werden kann. Das Gerät misst die vorhandene Gammastrahlung und prüft die Einhaltung der Freigabewerte. Anhand der Gesamt-Gamma-Aktivität und des Nuklidvektors wird die Aktivität für alle in dem Abfall enthaltenen Radionuklide berechnet. Das Messergebnis wird protokolliert. Bei der Entscheidung über die Freigabe des Abfalls werden also auch die Radionuklide rechnerisch berücksichtigt, die während der Stichprobenmessung gefunden, aber bei der Freimessung messtechnisch nicht nachgewiesen werden konnten. Damit wird sichergestellt, dass sämtliche Radionuklide bei der Prüfung der Einhaltung der 10-Mikrosivertdosis berücksichtigt werden.

Das Mengenverhältnis der Radionuklide untereinander ist nicht so stabil, dass es bei der Auswertung verschiedener Proben immer gleich ist. Das gilt auch für die natürlich vorkommenden Radionuklide. In der Freimessanlage kann nur die gesamte Aktivität aller natürlichen und künstlichen Radionuklide gemessen werden. Da die Werte der natürlichen Strahlung des Ursprungsmaterials in der Regel nicht bekannt sind, beinhaltet das Messergebnis auch die natürliche Strahlung. Auch die Aufteilung der Gesamtaktivität auf die unterschiedlichen Radionuklide erfolgt so, dass die resultierende Aktivität überschätzt wird. In der Praxis wird also die mögliche Dosisleistung deutlich überbewertet. Diese grundsätzlich konservative Vorgehensweise ist mit der Grundidee des Strahlenschutzes gut vereinbar, erweckt aber den Eindruck einer höheren Strahlung, als tatsächlich existiert.

Beispiel für „Spezialisten“: Freimessen von Mineralwolle

Bei der Aufteilung der Gesamtaktivität auf die unterschiedlichen Radionuklide wird also die resultierende Aktivität überschätzt; genau genommen wird die Ausschöpfung der Summenformel, also die Summe der Aktivität der Einzelnuklide, überschätzt. Das Beispiel Mineralwolle verdeutlicht das:

Die gesamte gemessene Aktivität wird dem Radionuklid zugeordnet, dass zu der höchsten Ausschöpfung der Summenformel führt. Im Beispiel der Mineralwolle aus dem Rückbau des KKW Brunsbüttel ist dies das Radionuklid Cobalt 60. Bei der Messung der Einzelproben war Kalium 40 das Radionuklid mit der höchsten Aktivität. Von der gesamten Strahlung einer typischen Einzelprobe entfielen mehr als 75 % auf Kalium 40, einem natürlich vorkommenden Radionuklid, das gemäß Strahlenschutzverordnung bei der Freigabe nicht berücksichtigt werden muss. Trotzdem wird der Messwert so eingeordnet, als wäre die Strahlenquelle zu 100 % Cobalt 60. Im Beispiel der Mineralwolle erfolgt dann eine spezifische Freigabe, weil einerseits die „Messwerte“ unter diesen Voraussetzungen die Freigabewerte der uneingeschränkten Freigabe nicht mehr einhalten, andererseits die Mineralwolle wegen ihrer stofflichen Eigenschaft (Fasern) ohnehin deponiepflichtig ist. Bereits der Abzug der natürlichen Strahlungswerte würde für eine uneingeschränkte Freigabe sicher reichen.